Verzögerung des Transfers von Bühnenwerken von der Londoner auf die Wiener Bühne ist eines der auffälligsten Phänomene in der Rezeption englischer Dramatik. In diesem Teilprojekt werden die Umstände untersucht, die zu dieser signifikanten Verzögerung bei Stücken der edwardianischen und der Zwischenkriegszeit geführt haben. Die selektive Wahrnehmung der Theaterleiter ist ein weiterer wesentlicher Faktor in diesem Kulturtransfer. Während komische wie ernste Gebrauchsdramatik die Aufmerksamkeit von Agenten und Direktoren in Wien erregte, kamen englische Bühnenwerke mit einem höheren intellektuellen und ästhetischen Anspruch oder mit einem heikleren politischen Inhalt kaum je in der österreichischen Hauptstadt an.
Obwohl das Ausmaß der Verzögerung variierte, war sie doch eine Eigentümlichkeit, die für alle Wiener Bühnen galt. Ein typisches Beispiel kann im Werk von J. M. Barrie gesehen werden. In England wurden die meisten seiner Stücke in der edwardianischen Periode und in der Zeit unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg aufgeführt. Barrie wurde in Großbritannien immer als zweitrangiger Dramatiker eingestuft, dessen Stücke, abgesehen von Peter Pan, keinen allzu bedeutenden Beitrag zum englischen Theaterleben leisteten. Obwohl das Burgtheater drei seiner Stücke in den Jahren 1908, 1914 und 1925 mit bescheidenem Erfolg zur Aufführung brachte, produzierte die Staatsbühne 1961 einen weiteren Barrie, zu einer Zeit als seine Stücke bereits in der Versenkung der Theatergeschichte verschwunden waren. Überdies führte die Josefstadt 1952 zum ersten Mal einen Barrie auf, während das Volkstheater sogar zwei Produktionen riskierte (1955 und 1959). 1959 wurde am Volkstheater auch ein anderer interessanter Nachzügler präsentiert: Verbannte von James Joyce (verfasst 1914, veröffentlicht 1918, uraufgeführt 1928). Während Barrie’s altmodische Bühnenwerke viktorianische Relikte darstellen, werden in Joyces Drama Schlüsselthemen der Moderne thematisiert. Der Umstand, dass am Volkstheater zwei derart unterschiedliche Autoren vorgestellt werden, lässt eher auf eine arbiträre Auswahl des fremdsprachigen Repertoires schließen als auf eine wohl überlegte Programmatik.
Ein weiterer typischer Fall ist Frederick Lonsdale, ebenfalls ein Dramatiker aus der zweiten Reihe. Das Burgtheater wagte eine erste Aufführung im Jahr 1928 (Aren’t We All?) und brachte 1947 und 1952 zwei weitere Stücke heraus. Andererseits zeigt die Bühnenlaufbahn Lonsdales am Volkstheater gewisse Ähnlichkeiten mit jener in London: drei Produktionen in den Jahren 1925, 1926 und 1930, sowie eine weitere 1949, als das Interesse des Volkstheaters an Lonsdale auch schon wieder erlosch.
Der Umgang mit dem Werk Noel Cowards, insbesondere seine späte Ankunft am Burgtheater, kann als weitere merkwürdige Facette der Rezeptionsgeschichte betrachtet werden. Während man am Volkstheater und insbesondere an der Josefstadt (4 Produktionen in den späten Zwanzigerjahren) fast von einer Coward-Tradition sprechen kann, brachte das Burgtheater erst 1952 seinen ersten Coward heraus, also zu einer Zeit, als sich in Großbritannien das Publikum von ihm schon abgewendet hatte, vor allem wegen seiner überholten Dramentechnik und seines offenen Antiintellektualismus.
Hatten die Stücke William Somerset Maughams, die meisten von ihnen Gesellschaftskomödien, keinen langen Anfahrtsweg und vermochten sich auch über längere Zeit auf den Wiener Bühnen zu etablieren, so mussten die Bühnenwerke J. B. Priestley’s, die ja nicht unbedingt konventionell gebaut sind, bis nach dem Krieg warten. Im letzteren Fall hat die schwierige politische Situation in Österreich auch zu dieser Verzögerung beigetragen.
Wenn man die Theaterlandschaft Wiens und das Repertoire der einzelnen Theater untersucht, sind eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen. Nach dem Untergang der Donaumonarchie ist Österreich ein sehr kleiner Staat geworden, wirtschaftlich kaum überlebensfähig, auf der Suche nach seiner Identität, politisch höchst instabil, vom Parteienzank gezeichnet und auf dem Weg zu Bürgerkrieg und totalitärem Staat. Das Theater spiegelt diese Krisenzeit in einem wesentlichen Maß wider. Die ehemaligen Hoftheater, jetzt staatliche Bühnen, d.h. das Burgtheater und seine kleineren Bühnen, hatten wenig Spielraum, da sie vom Staat finanziert, kontrolliert und manipuliert wurden. Diese problematischen Umstände waren wohl mitverantwortlich für den Konservativismus des österreichischen Repräsentativtheaters in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Andererseits kämpften die großen Privattheater, Raimundtheater, Volkstheater und Josefstadt, in einer schweren Zeit ums Überleben. Trotzdem hatten sie mehr Möglichkeiten bei der Repertoiregestaltung, insbesondere beim Vorstellen ausländischer Stücke. Ein weiterer wichtiger Faktor war der Einfluss und die Zensur des Ständestaates und des Nazi-Regimes.
Auch die Theaterleiter und Theaterkritiker spielten eine wesentliche Rolle. Die Privattheater wurden von einer kleinen Gruppe von Direktoren dominiert, die entweder mehrere Theater gleichzeitig leiteten oder von einem Theater zum anderen weiterzogen. Die meisten Kritiker wiederum waren mit der Theater- und Dramenästhetik der Jahrhundertwende aufgewachsen und waren deshalb von innovativen Texten und Aufführungen irritiert. Diese beiden Faktoren waren weder der Etablierung eines progressiven heimischen, geschweige denn eines ausländischen Repertoires förderlich.
Diese Aspekte einer kontextualisierten Rezeption werden im Rahmen von Prozessen interkultureller Kontakte untersucht, wozu etwa das kulturelle Klima, der literarische Hintergrund, die Theaterwelt und die dramatische Tradition der jeweiligen Kulturen gehören. Diese Bezugsrahmen bestimmen den Erfolg oder Misserfolg des kulturellen Transfers im Bereich des Theaters. Zwei Beispiele eines problematischen bzw. misslungenen Transfers mögen dies veranschaulichen. Als Maughams The Circle, eine typische Gesellschaftskomödie (comedy of manners) modernen Zuschnitts, in Wien vorgestellt wurde, wiesen einige Kritiker das Stück der Shaw-Nachfolge zu. Cowards Hay Fever wiederum wurde von einem Teil der Theaterkritik als gescheiterter Transfer erachtet, weil die Satire auf die englische Gastfreundschaft aufgrund der allzu unterschiedlichen sozialen Traditionen vom Wiener Publikum nicht als solche erkannte wurde.
Letztendlich steht im Zentrum dieses Teilprojekts die fundamentale Frage, ob und inwieweit ein Theaterstück international und interkulturell sein kann. Die Behauptung des bedeutenden englischen Theaterkritikers William Archer, dass ein dramatisches Werk nur zu einem sehr geringen Grad international sein kann, soll hinterfragt und vielleicht auch widerlegt werden.