Seit der Aufführung von Der Teufelskerl (The Devil’s Disciple) im Wiener Raimundtheater am 25. Februar 1903, der ersten Inszenierung eines seiner Stücke im deutschsprachigen Raum, gehört der irische Dramatiker George Bernard Shaw zum Repertoire der Bühnen Wiens. Obwohl seine Werke oft mit unterschiedlichem Erfolg von Publikum und Kritik aufgenommen wurden, verschwand Shaw nie von den Spielplänen der Wiener Theater; nach dem Ersten Weltkrieg erlebte beinahe jede Theatersaison eine Neuinszenierung eines Shaw-Stückes.
Shaws 1893 verfasstes Schauspiel Frau Warrens Gewerbe (Mrs. Warren’s Profession), das in England auf Grund von Zensurmaßnahmen erst 1925 aufgeführt werden konnte, feierte seine Premiere am Raimundtheater in Wien am 19. Oktober 1906; und das Burgtheater präsentierte dem Wiener Theaterpublikum Shaws Pygmalion bereits einige Monate vor der Londoner Premiere. Während des Ersten Weltkrieges inszenierte das Theater an der Josefstadt drei Einakter des irischen Dramatikers (1916), das Deutsche Volkstheater zeigte 1916 eine Produktion von Der Teufelsschüler.
Zur Zeit des österreichischen Ständestaats und des nationalsozialistischen Regimes zählte Shaw zu den wenigen fremdsprachigen Autoren, die – der restriktiven Spielplangestaltung zum Trotz – zur Aufführung gelangten. Obwohl Shaws zentrale Vermittlungsinstanz, sein literarischer Agent und Übersetzer Siegfried Trebitsch, im Zuge des "Anschlusses" Österreichs emigrierte, blieb Shaws Status unangefochten. Die Betonung seiner irischen Nationalität, kombiniert mit einer anti-britischen und pro-deutschen Haltung, die der Dramatiker in zahlreichen politischen Kommentaren kundtat, passten genau in das ideologische Konzept der Nationalsozialisten und trugen entschieden zu seiner Popularität bei.
Während des Zweiten Weltkriegs inszenierte das Burgtheater Candida (1944), das Theater in der Josefstadt produzierte Pygmalion (1942), und das Deutsche Volkstheater setzte Frau Warrens Gewerbe und Die heilige Johanna (beide 1943) auf seinen Spielplan. Zu Adolf Hitlers 50. Geburtstag am 20. April 1939 fand im Akademietheater eine ‘Festvorstellung’ von Man kann nie wissen (You Never Can Tell) statt, die Shaws privilegierte Position im nationalsozialistischen Kulturprogramm besonders unterstreicht.
Ausgehend vom politischen, sozialen und theaterhistorischen Kontext werden im Rahmen des Dissertationsprojekts die Ursachen der Omnipräsenz der dramatischen Werke Shaws an Wiener Theatern untersucht. Anhand konkreter Beispiele aus der Aufführungspraxis soll gezeigt werden, welche Faktoren die Rezeption des irischen Dramatikers entscheidend beeinflussten.