Die Dramen des anglo-irischen Schriftstellers Oscar Wilde, im Besonderen dessen vier Gesellschaftskomödien, bilden bis heute einen regelmäßig wiederaufgenommenen Fixpunkt auf den Spielplänen der Wiener Theater, was aktuelle Publikumserfolge wie Ernst ist das Leben, Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelineks Adaption von Wildes letzter Komödie The Importance of Being Earnest (1895), am Akademietheater (Premiere: 18. Februar 2005) beweisen. In Hinblick auf die scheinbar ungebrochene Popularität und Bühnenpräsenz der Dramen Wildes versucht dieses Einzelprojekt mit Hilfe literatur- und kulturwissenschaftlicher Methoden und Ansätze, unter besonderer Berücksichtigung der Kulturtransfertheorie, die spezifischen Parameter und Charakteristika der Rezeption von Oscar Wildes Dramen auf Wiener Bühnen des 20. Jahrhunderts aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten.
Nachdem Wilde dem Wiener Theaterpublikum erstmals als Autor der umstrittenen symbolistischen Einakt-Tragödie Salome vorgestellt wurde, deren Wiener Erstaufführung am 12. Dezember 1903 am Deutschen Volkstheater stattfand, feierten in den darauffolgenden Jahren in rascher Folge auch die deutschen Übersetzungen von Wildes Komödien, sowie der fragmentarische Einakter Eine florentinische Tragödie (A Florentine Tragedy) ihre Wiener Premieren. Während Oscar Wildes Dramen auf ungebrochen starkes Publikumsinteresse stießen, so zeigt sich ihre Aufnahme bei der Wiener Kritik als durchaus widersprüchlich und differenziert und erweist sich vielfach als von einer eindrucksvollen diskursiven Pluralität, sowie von Beispielen multiformer Wahrnehmung und ideologischer Instrumentalisierung gekennzeichnet. In diesem Sinne lässt sich auch in den frühen Feuilleton-Stimmen der Wiener Presse zu Wildes dramatischem Schaffen eine Beeinflussung durch die Mechanismen journalistischer Sensationsgier beobachten. Da Wilde vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl im medizinisch-juristischen Kontext psychopathologischer Polemik, als auch im Kontext anarchistisch-sozialutopischer Gesellschaftskritik und verlagspolitischer Etikettierung wahrgenommen wird, ergibt sich ein zutiefst polarisierendes Spannungsfeld des begriffsbildenden Zusammenspiels von Wilde als Person und Autor.
Letztlich soll auf Basis dieser zu untersuchenden Schwerpunkte eine vergleichende Studie angestrebt werden, die sich nicht nur mit einer detaillierten Analyse der Formen und Spezifika von Oscar Wildes posthumer Rezeption in Großbritannien und im deutschsprachigen Raum auseinandersetzt, sondern die auch klärende Rückschlüsse in Bezug auf die zentrale Fragestellung nach den Ursachen für ihre unterschiedlichen Rahmenbedingungen und konträren Ausprägungen in den beiden Kulturräumen erlaubt. Vor dem interdisziplinären Hintergrund sozio-kultureller und historischer, kultur- und translationstheoretischer Kontextualisierung soll hier auch die Rolle nationaler Stereotypen, der Translation und der Adaption, sowie die historische Bedeutung einzelner Theater, Intendanten, Regisseure und herausragender Persönlichkeiten der Wiener Theaterszene als Kulturvermittler (wie im Fall Wildes, Franz Blei) in den Blickpunkt gerückt werden.